Walter Seitter

 

Tiefbau und Hochbau und ...

Zum Elementaren der Architektur

 

 

Ich will Ihnen zum Bauwesen sprechen. Ob und wie ich dann auch noch zum Eigentümlichen der Architektur komme, müssen wir erst sehen. Dabei gehe ich jetzt von der landläufigen Auffassung aus, daß das Bauwesen alle Bauten oder Bauwerke oder Gebäude umfaßt, folglich auch alle Baumaterialien, Bauformen  und Bauzwecke. Aber nur einigen Bauwerken sprechen wir den Rang von Architektur zu. Das Verhältnis entspricht vielleicht dem zwischen den Bildern überhaupt und jenen, die wir der Kunst zurechnen. In der Kunstwissenschaft rührt sich erst seit kurzem der Hausverstand der Logik und besteht darauf, daß es auch so etwas wie eine Bildwissenschaft geben müsse, die sich mit dem beschäftigt, was es mit den Bildern überhaupt auf sich hat – bevor man sich dann auf die Bilder der Kunst konzentriert.

 

Mein Beitrag zur Bauwissenschaft kommt aber nicht aus den Disziplinen der Ingenieurswissenschaft, der Statik oder der Materialforschung, auch nicht aus den Spezialbereichen Städtebau oder Landschaftsplanung, ebenso wenig aus der Baugeschichte, die es ohnehin nur als Architekturgeschichte zu geben scheint, weil je urälter etwas ist, es umso gerner zu Architektur sublimiert wird. Sondern aus der Philosophie, die Wesensbestimmungen zu treffen versucht – obwohl sich dieser Anspruch vielleicht mit der Architektur schlecht verträgt, die es doch mit verschiedenen Bedürfnislagen und Geschmacksrichtungen, mit Vorlieben, mit Entscheidungen und mit der Suche nach dem Neuen zu tun hat. Wo ist da Platz für feste Wesenheiten?

 

Nun, um doch mit einer für das Bauwesen konstitutiven Wesensbestimmung einzusetzen, behaupte ich, daß für die Menschen – wie für die meisten anderen Tiere – der feste Erdboden und der Luftraum darüber, daß also diese beiden Aggregatzustände um nicht zu sagen Elemente die minimalste physikalische Voraussetzung für ihre Existenz bilden. Diese beiden Schichten sind uns dank der Erkaltung des Feuers des Himmelskörpers namens Erde sowie dank einiger anderer dauerhafter Prozesse vorgegeben. Nur in dieser Schichtung, die schon eine Art Geschoßbildung darstellt, können solche wie wir entstehen und leben. Das ist die von der Natur gegebene minimale bauliche Struktur. Jedwedes hinzukommende künstliche Bauwesen setzt sie voraus – und baut sie irgendwie aus, weiter, modifiziert sie irgendwie. Mit dem Irgendwie deute ich an, daß hier die Kontingenz der Künstlichkeit beginnt, der Weiterbau kann oder vielmehr muß so oder so vonstatten gehen. Er ist nicht natürlich vorgegeben. Genau genommen leistet sich sogar der natürliche Vorbau, den Menschen brauchen müssen, erhebliche Kontingenzspielräume: in manchen Gegenden wird der Boden ständig durch heftig nachwachsendes Grün verunstaltet (Tropen), in manchen besteht er hauptsächlich aus Wasser (Lagune) und in wieder anderen aus gefrorenem Wasser (Arktis).

 

Solchen Sondersituationen zum Trotz kann man sagen, daß der massive, großflächige und vor allem ruhige Erdboden und die still darüberschwebende Atmosphäre, daß also diese beiden Elemente zusammen den Urbau bilden, der von der menschlichen Bautätigkeit vorausgesetzt und ausgebaut, weitergebaut wird. Er, der sich fast endlos aber nicht unterschiedslos über die Erdoberfläche hinzieht, wird durch das Bauen selektiv d. h. partikular d. h. lokal markiert, befestigt, modifiziert.

 

Wie schon erwähnt sind diese beiden elementaren Schichten in der Regel bzw. hoffentlich still und ruhig vorhanden. Ihre übermäßige Bewegung – Erdbeben und Orkan – werden als Katastrophen, weil als Ausfall der beiden stillen Vorausgesetzten erlebt – erlebt oder sogar nicht überlebt. Dabei bleibt die stille Luftschicht zumeist noch mehr unbemerkt, wird noch mehr vergessen, sodaß die Bauleute in der Regel nur den Erdboden, die feste, mehr oder weniger steinerne Masse als Voraussetzung und Materiallieferanten für ihre Tätigkeit betrachten und benennen. Sie arbeiten mit Steinen  - wobei ich mit den Steinen auch die anderen Baumaterialien etwa pflanzlicher Herkunft mitmeine und natürlich auch die Kunststeine wie Ziegel, Beton, Glas, Plastik. Die Bauleute arbeiten mit Steinen, weil der Großstein namens Erde eine unabdingbare Voraussetzung für unser Existieren ist. Und was sie aus den Bausteinen (oder ähnlichen Stoffen) bauen – sei es hinunterbauen oder hinaufbauen oder dazubauen: es muß, damit es ein Bau ist und nicht irgendein anderes Werk, das Format des Menschenkörpers übersteigen, es muß übermenschlich groß sein, einfach weil es dem Menschen und zumeist nicht bloß einem einzigen, Platz bieten soll, großzügigen Platz, einen gebauten Umraum zum Aufenthalt, zur Bewegung. Das berühmte Wort „übermenschlich“ hat da – und vielleicht nur da - einen sinnlichen Sinn.

 

Ausgehend vom natürlichen Megalith Erde, von dem wir aber wissen, daß er nicht hundertprozentig sicher und ewig ist, bilden die Menschen megalithische Anlagen, die den Menschen großzügige Sonderplätze bieten und die „nach innen“ ansatzweise konkav geformt sein müssen, auch wenn sie „nach außen“ sich noch so konvex gebärden und auftürmen. Übermenschlich große, auf den Menschen bezogen umgebende, umfassende, also konkave Megalithe, wenn ich jetzt unter Meglithen auch komposite, also mauerartig zusammengestückelte Steinkörper verstehe (selbst die Erde ist ein kompositer Megalith).

 

Ich habe jetzt schon mehrere konstitutive Aspekte des eigentlichen, also des menschlichen oder künstlichen Bauwesens angedeutet. Der eine ist der Formataspekt, der quantitativer und zwar geometrischer, genauer gesagt topologischer Art ist. Er bedeutet, daß Bauten Anlagen sind, die so konkav und so groß sein müssen, daß sie sich um die Menschen herumlegen, -setzen und -stellen und zwar nicht enganliegend wie Kleidung sondern mit einer gewissen Distanz und Weite, die den Menschen Beweglichkeit gestattet, und die an sich selber so fest und statisch sind, daß sie, wenn sie fertig sind, nicht von den Menschen herumgetragen werden (wie Kleidung) sondern daß im Gegenteil die Menschen in sie eintreten und aus ihnen heraustreten. Die Festigkeit und Statik verbindet die Bauten und zwar ganz buchstäblich mit dem naturgegebenen Ur- oder Grundbau namens Erde. Eine Verbindung, die durch die Schwerkraft verstärkt wird und durch eine gewisse Materialähnlichkeit auch qualitativ bestätigt wird. Dieser Wesensaspekt impliziert noch keine geometrische Festlegung sondern nur eine topologische. Die Bezeichnung „konkav“ meint nicht eine Krümmung, weder eine zylindrische noch eine sphärische. Die Konkavität kann rund oder eckig, viereckig oder vieleckig gebildet sein. Worauf es ankommt, ist, daß rundum begrenzte Innenräume geschaffen werden, die den Menschen relativ nahe Rundum-Umgebungen bieten. Wie Sie ahnen werden, beziehe ich mich jetzt auf die bekanntesten Prototypen von Bauanlagen – nämlich Haus oder Zimmer, also auf genau so eine Anlage, in der wir uns auch jetzt befinden, da Vortragsveranstaltungen eben zumeist in derartigen Räumen durchgeführt werden, damit das Sprechen und das Hören durch eine gewisse Abschließung von der Außenwelt mit ihren anderen Lärmen und Sichtreizen, Temperaturen und Interessen isoliert und geschützt wird. Nach außen bietet natürlich auch dieser Hörsaal bzw. dieses Hochschulgebäude einen ganz anderen Eindruck; einen Eindruck, der topologische gesehen einem Berg oder eben einer überdimensionierten Skulptur gleicht. Keine Technik und keine Kunst bindet so wie die Bautechnik oder die Baukunst in jedem ihrer Werke zwei so radikal verschiedene Ansichten aneinander: den Außenaspekt eines übermenschlich großen Ungetüms und den Innenaspekt einer übermenschlich großen Totalumgebung. Zwischen diesen beiden Aspekten liegen bzw. stehen einerseits die Wände oder Mauern, andererseits vermitteln zwischen ihnen Ventile, die zumeist mit beweglichen Vorrichtungen wie Klappen oder Schleusen versehen sind. Aber selbst wenn die Ventile nur stabile kleine Öffnungen darstellen, haben sie eine erstaunliche kinetische Funktion. Dazu später.

 

Ein jedes Haus und sogar ein jedes Zimmer schneidet aus dem gesamten Weltraum, der übrigens nicht erst mit der Erdoberfläche oder gar über der Atmosphäre anfängt,  sondern der in allen Richtungen durch und durch geht, von hier pfeilgerade bis nach Australien usw., aus diesem Weltraum schneidet jedes Zimmer einen Sonderraum heraus, sodaß die jeweiligen Insassen nur das wahrnehmen, was sich gerade in dem Innenraum, der ihre momentane Totalumwelt ist, abspielt. Ein derartig künstliches und relativ festes und einigermaßen großzügiges Worin menschlichen Daseins ist der Wesenskern von „Bau“. Dadurch unterscheidet sich der Bau radikal bzw. zuinnerst von Skulptur, auch wenn diese nach außen genauso groß und zufällig auch genauso geformt sein kann wie ein Gebäude. Allerdings kommt bei Bauleuten, die sich für was Besseres halten, also bei Architekten, immer wieder die Lust hoch, das Bauen durch skulpturale Gestaltungsfreiheit und Mißachtung spezifisch baulicher Gesichtspunkte, nämlich von Bauzwecken, von Wohnlichkeit oder sonstiger Benützbarkeit, interessant zu machen. Eine relativ bescheidene Äußerung, die in so eine Richtung geht, kann man in dem Statement von Le Corbusier sehen, der gesagt hat: Architektur hat – im Unterschied zum Gebäude – entweder zu große oder zu kleine Fenster.[1] Wenn sie sich dazu entschließt, gar keine Fenster einzubauen, kommt sie der Erscheinung von Skulptur schon ganz schön nahe. Aber erst wenn sie die Durchlöcherung der Umschließung vollkommen verweigerte, würde sie das Wesen des Baues verfehlen – und damit allerdings auch sich selber als Architektur in Frage stellen. Die radikalste Architekturverweigerung würde dann darin liegen, daß man das Gebilde durch und durch mit Festkörper anfüllt. Zum Gebäude gehört es nämlich, daß es innen hohl ist und Platz bietet. Ein Gebäude besteht in der Regel mehr aus Leerraum als aus Mauermasse. Die Abweichung in Richtung Skulptur ist eine Architekturverfehlung, mit der wie schon angedeutet, eher die Architektur kokettiert als die ganz gewöhnliche Bautätigkeit.

 

Näher als der Skulptur steht – vor allem seit dem 19. Jahrhundert – das Gebäude dem Fahrzeug. Weil die Fahrzeuge seit den Ozeanriesen, seit den Eisenbahnen und auch seit vielen Kraftwagen die feste Umschließung sowie die innere Gliederung des Hauses imitieren bzw. weiterentwickeln. Sosehr daß von diesen Fahrzeugerfindungen eine beträchtliche Rückwirkung auf die eigentliche Bautätigkeit ausgeht und sie dazu verführt, die Bindungen an die Erde zu lockern oder aufzugeben, die steinartigen Baumaterialien durch dünne Schalen zu ersetzen, womöglich gar die Schwerkraft aufheben zu wollen.

 

Das ist also die Topologie des hausartigen Bauwerks, die ein Außen und ein Innen herstellt und die beiden voneinander trennt und doch auch eng aneinander bindet. Das notwendige Material für das paradoxe Miteinander dieser Trennung und dieser Verbindung nenne ich die Mauer, die eine steinartige aber künstliche und formbare Masse ist: formbar zu grundsätzlich konvexen festkörperlichen Figuren, deren bekannteste Geometrie, jetzt muß von Geometrie die Rede sein, so beschaffen ist, daß der Mauerkörper mehr lang und breit als dick ist. Eine Mauer kann zwar auch sehr dick sein, aber gemäß der tyischen Mauerform ist sie weniger dick als lang und breit, und vor allem zeigt sie ihre Dicke weniger ostentativ als ihre Länge und Breite. Sie zeigt folglich am meisten zwei Oberflächen, von denen wir zumeist die eine als Außenfläche und die andere als Innenfläche bezeichnen. Mauern sind Körper, die ihre Körperlichkeit sehr häufig geschickt verstecken – hinter ihrer zweifachen Flächigkeit. Diese Eigenkörperlichkeitsversteckungskunst ist weit verbreitet, bis hin zum Papier und bis zu den Textilien, die auch insofern als Baumaterialien nicht ganz unmöglich sind, sozusagen als Extremmodifikationen von Mauern. Und das Glas ist natürlich, vor allem, wenn es schön durchsichtig ist, ein besonders genialer Versteckungskünstler der erwähnten Art, weshalb es ja immer wieder riesige Schübe gibt, in denen sich das Glas als allerbeste Mauer bzw. Anti-Mauer zu empfehlen. Solche Schübe gab es im 12., 13., 14., und 15. Jahrhundert nach Christus,  dann wieder seit dem 19. Jahrhundert. Das Glas als geschickte Anti-Mauer, als geniale Kompromißbildung zwischen Mauer und Nicht-Mauer, gehört in eine große Geschichte hinein, auf die ich noch eingehen werde, die Geschichte der Mauerstürmerei oder des Teichoklasmus.

 

Die Versuche, die Mauer als Bauelement durch andere dünnere und leichtere Stoffe zu ersetzen, spielen in der Gegenwart eine große Rolle und sie erzeugen vielfach den Eindruck, daß das Zeitalter der Mauer eigentlich zu Ende geht. Zu diesem Eindruck und zu dieser Geschichte also später noch etwas.

 

Zunächst aber muß ich auf die Tatsache eingehen, daß es Bauten gibt, vor allem solche, die in die Sparte „Tiefbau“ fallen und die kaum eine Chance haben, in die Hochkultur der Architektur aufzusteigen. Bauten, die es kaum zum Ehrentitel von „Bauwerken“ bringen. Ich meine jetzt weniger diejenigen sogenannten Zweckbauten, die industriellen oder kommerziellen Zwecken dienen. Sondern die Straßen und Plätze, die einerseits bis an die Türen der Häuser heranreichen und genaugenommen in den Böden innerhalb der Häuser direkte Fortsetzungen finden, da auch sie die Träger für unser Gehen und Stehen sind. Und die andererseits in gigantischen, flächendeckenden Anlagen namens Parkplatz, Straße und Autobahn, Hochgeschwindigkeitstrasse, Start- und Landebahn ihre Zentralen haben.

 

Haben diese Bauten topologisch mit den konkaven Haus-Zimmer-Anlagen etwas zu tun? Man wird die Frage mit Nein beantworten, solange man an der Redensart festhält, daß für ein Haus bzw. Zimmer „die vier Wände“ ausschlaggebend sind, wozu dann auch noch die Überdachung kommt. Die vier Wände fehlen bei der Straße und eine Überdachung hat sie nur in dem Ausnahmefall des Tunnels oder der Unterführung (in welchem Fall dann immerhin auch noch zwei Wände dazukommen). Dieser gewöhnlichen Hausrechnung zufolge (wir sind jetzt von der Topologie zur Geometrie des Quaders übergegangen) sind für Haus bzw. Zimmer fünf Wände nötig, fünf Wandflächen, die allerdings nach den Gesetzen der Physik nicht als pure Flächen gegeben sein können, sondern als Oberflächen, als Innenflächen von fünf Mauern oder mauerartigen Flachkörpern. Auch das Dach bzw. der Plafond ist ein mauerartiges Gebilde – unabhängig von der Erscheinungsform.

 

In Wirklichkeit braucht das Haus oder Zimmer eine sechste Mauer. Die Behauptung dieser sechsten Mauer erscheint vielleicht ziemlich ungewöhnlich, denn die sechste Mauer bietet nicht den Anblick einer Wand. Sie bietet überhaupt wenig Anblick, sie steht dem Auge nicht gegenüber und sie zeigt sich auch nicht dem sich hebenden Blick. Sie scheint überhaupt nicht dazu dazusein, um gesehen zu werden. Sie scheint die Bewohner auch nicht gegen irgendein denkbares Außen isolieren zu müssen. Diese sechste Mauer, es ist die erste Mauer, nämlich der Boden, schützt das Innere nur gegen das, was unterhalb ist, also gegen die Urmauer, von der am Anfang die Rede war. Daher ist dieser Boden, wenn er wirklich auf der Erde aufliegt, insgesamt der festeste. Andererseits kann man sich da – jedenfalls unter bestimmten Umständen – eine feste künstliche Mauer sparen und sich auf die naturgegebene verlassen. Das ist in unseren Breiten allerdings nicht üblich, bei uns wird die Bodenmauer – natürlich unter einem anderen Namen und gewöhnlich handelt es sich um den Kellerboden – besonders stark gemauert, so als ob auch gegen das Unten da eine Isolierung und Befestigung nötig wäre. Es wird schon so sein. Und in gewissen Fällen, in denen der Hausbau ganz ohne Mauern auszukommen scheint, ich meine jetzt das Zelt der Nomaden in der Wüste, wo also der vorübergehende Hausbau nur mit Textilien bewerkstelligt wird, da ist die Sonderstellung der Bodenmauer offenkundig. Zwar nicht für den Blick, auch der Boden wird mit einem Tuch belegt. Aber das Ganze dieses Bodens bildet die einzige feste Mauer des wandernden Hauses der Wüstenleute, wobei sich die Festigkeit dieser Mauer überwiegend dem Naturboden verdankt (obwohl der da aus fliegendem Sand besteht (der wiederum gerade von dem schwächlichen Zeltbau stablisiert wird)).

 

Straßen und Plätze sind, wo sie regelrecht angelegt sind, regelrechte Bauwerke, die mit einer einzigen Mauer auskommen, eben mit der Bodenmauer, deren Mauercharakter allerdings zumeist noch unsichtbarer ist als das bei den gewöhnlichen Mauern, den senkrecht stehenden, der Fall ist. Man sieht von dieser Mauer in aller Regel nur eine Oberfläche, eben die nach oben schauende, die Seitenwände sieht man nur selten, und die Unterseite wird zu hundert Prozent und für alle Zeiten von der Oberfläche und von der Mauermasse verdeckt. Es handelt sich also um weitestgehend ungesehene Mauern. Man kann auch sagen: die Straße – die unbekannte Mauer.

 

Unbekannt vielleicht, aber nicht etwa weil sie etwas Vergangenes oder Antiquarisches ist. Vor kurzem war ich in Paestum, Süditalien, wo die antike Stadtmauer in ihrer ganzen Länge erhalten ist, ihre Höhe ist auf zwei bis fünf Meter geschrumpft, ursprünglich war sie fünfzehn Meter hoch, ihre Dicke von fünf Metern ist noch zu sehen. Diese riesige Mauer, die die Stadt zu einer Festung, zu einem großen dachlosen Meta-Haus machte, hat also seinerzeit die anderen, die schönen Bauwerke der Stadt, die Tempel überragt, jedenfalls von außen unsichtbar gemacht und mit Sicherheit an Masse und Aufwand übertroffen. Eine Mauer, die 4,75 km lang war, an den Toren sowie durch weitere Türme zusätzlich verstärkt. Außen herum noch durch einen Wassergraben tiefbaumäßig unterstützt bzw. relativ erhöht. Der Wassergraben ist längst zugeschüttet, da ist heute ein Wiesenstreifen, auf dem Mauersteine herumliegen und dann verläuft um die ehemalige Stadtmauer herum ein Landstraße, ungefähr 6 oder 7 Meter breit, also eine ganz normale Straße, wie sie heutzutage unsere Gegenden durchqueren. Geht man in Paestum mit aufmerksamem Blick da außen an der Mauer entlang, dann kann man noch nachvollziehen, wie da seinerzeit von der Mauer bzw. vom Wassergraben aus ein kleiner Abhang abgefallen sein muß, hinunter zu den niedriger liegenden Wiesen, teilweise auch zum Hafenbecken. Diese Böschung ist heute kaum mehr direkt sichtbar, weil sie durch die Straße, die naturgemäß eine ebene Oberfläche hat, überdeckt oder wie man sagt „verbaut“ ist. Das Bauwerk Straße hat sich da drübergelegt. Und obwohl es nur eine gewöhnliche Landstraße ist, handelt es sich um ein echtes Bauwerk, das sich nicht etwa dem natürlichen Boden anschmiegt, sondern in den unebenen Boden hineingeschnitten, über ihn drübergebaut ist. Die gewöhnliche Landstraße ist heutzutage die ganz normale kilometerlange Mauer, die in die Landschaft sehr wohl eingreift. So wie damals die Stadtmauer ganz selbstverständlich um die Stadt herum aufgestellt war, weil die Stadt nur als eine Art Mega-Haus, mit einer steinernen Isolierung, möglich und lebensfähig schien. Heute sind die selbstverständlichen Mauern, die wohlgebauten und kilometerlangen, umgelegt und sie dienen in ihrer Längsrichtung dem Verkehr. Sie haben eine andere, eine geradezu entgegengesetzte Zweckbestimmung, und sie sind noch selbstverständlicher, wohl auch viel unsichtbarer geworden. Aber sie sind nicht weniger geworden sondern eher mehr. Das Bauwesen pflastert den Boden mehr und mehr zu bzw. ersetzt ihn durch künstliche Böden. Das gilt auch und vor allem im Hinblick auf die eigentlichen Bauwerke, also auf die Hochbauten, auch die Hochbauten im kulturellen Sinn, also auf die Bauwerke, die von von vornherein unter dem Adelsprädikat „Architektur“ stehen. Auch die beginnen, von unten betrachtet, mit Bodengestaltung, und die Bodengestaltung mit Vorplatz, Zufahrt und Parkplatz legt sich außen ums Bauwerk herum, welches überdies als Menschenanziehungspunkt auch die ferneren Wege und Straßen bestückt und belebt.

 

Das System der Verkehrswege ist funktionell mit den sogenannten eigentlichen Bauten eng verknüpft. Obwohl alle Bauten, die Verkehrsbauten wie die eigentlichen Bauwerke still daliegen oder –stehen, dienen sie alle, auch die eigentlichen Bauten dem Verkehr. Die eigentlichen Bauwerke dienen ihm nicht nur, sie stacheln ihn an. Sie sind ja Menschen-Container – aber mit Löchern, durch die die Menschen eintreten und austreten. Als Eintretende kommen sie aus dem Verkehrssystem, als Austretende kehren sie ins Verkehrssystem zurück. Die Bauwerke sind Menschenansaugungsanlagen und Menschenausstoßungsanlagen – also Pumpstationen, die indirekt mit anderen Pumpstationen und direkter mit dem Röhrensystem verbunden sind. Sowohl die Stationen wie die Röhren müssen gebaut sein, allerdings sind die meisten von mir so genannten Röhren keine Röhren, dann wären sie ja schon morphologisch gesehen fast Häuser, sie sind nur Straßen und Plätze. Also äußerst minimale – strukturell minimal, nicht quantitativ minimal – Bauwerke mit nur einer Mauer, eben der Bodenmauer. Aber der Ausbau der nur aus Bodenmauer bestehenden Verkehrsanlagen geht weiter – nicht nur quantitativ sondern auch strukturell. Diese Mauern werden aufwendiger, hohler, mehrgeschoßiger, sie werden von seitlichen Schutzwänden flankiert, sie werden punktuell von Zeichenträgern überquert. Die Hochgeschwindigkeitsstrecken werden tunnelliert; die Autobahn wird wie man sagt zu einem intelligenten Wesen ausgebaut; die Straßen der Stadt sind ohnehin längst unterkellert und oben werden sie von Schrift- und Bildwänden quasi-architektonisch eingerahmt. Das heißt die bloßen Verkehrsbauten nähern sich den hausartigen Bauten an. Das Bauwesen wird einheitlicher und zur Veranschaulichung weise ich auf eine Bauaufgabe hin, die in der griechischen und römischen Antike vielfach realisiert worden ist: das offene Theater oder das Amphitheater. Ein Bautyp von sozusagen halber Konkavität: eine Schüssel im Großformat, ein Großhaus, bei dem nur der Boden ausgebaut ist, allerdings auch einige Rundum-Mauern treppenartig angelegt sind, nur das Dach fehlt vollkommen. Seit dem 20. Jahrhundert nach Christus wird diese Bauaufgabe, die genau zwischen dem bloßen Bodenbau und dem vollen Container-Bau steht, wiederum in großem Umfang wahrgenommen. 

 

Das antike Theater wie das moderne Fußballstadion oder auch das offene Schwimmbad bilden aufgrund ihrer baulichen Halbheit die exakten strukturellen Mitten des gesamten Bauwesens.

 

Nachdem ich jetzt so viel von Wesensbestimmungen und –notwendigkeiten und –gehörigkeiten geredet habe, jetzt zur anderen Seite des ganzen Komplexes, zur Kontingenzseite. Das ist die Seite der Wünsche und der Vorlieben, der Entscheidungen und der Formfindungen. Aber diese Seite will ich nicht so ausführlich behandeln, sie ist uns ja glaube ich grundsätzlich bekannter. Fragen ergeben sich vielleicht aus dem Zusammen oder Gegeneinander der beiden Seiten.

 

Ich will den Aspekt der Formfindung herausgreifen. Trotz dem, was ich über den natürlichen Urbau gesagt habe, liefert uns die Natur fast keine Vorgaben für die Formfindung. Gegenbeispiele wie die Höhlen als ursprüngliche Menschenwohnungen reichen nicht weit. Die Menschen haben ihre Bautätigkeit wohl von Anfang an über die  natürlichen Vorgaben hinausgetrieben – jedenfalls was die Formen betrifft. Ich will jetzt aber ohnehin nicht in die Urgeschichte zurücksteigen sondern die Frage der Formfindungvon einer idealtypischen Gegenwart aus stellen.

 

Wer vor einer Bauaufgabe steht, ist dazu immer von einem Wünschen getrieben, das sich entweder mehr von Bauzwecken oder mehr von Bauformen leiten läßt. Die gewünschten bzw. die gesuchten Bauformen werden im gewöhnlichen Fall von einem Vorwissen geliefert, das aus der Wahrnehmung des Vorhandenen schöpft. Vorhandenes wird nachgemacht. Zwar muß dabei ausgewählt werden, denn unsere Information über das schon Gebaute wächst rasant. Und selbst wenn man nicht den totalen Überblick hat, steht man vor einem übergroßen Spektrum. Wie aufwendig auch die Informationsbeschaffung sein mag, wie schwierig die Auswahlentscheidung: derjenige, der sich auf diese Weise für eine bestimmte Formgebung entscheidet, verbleibt nach Aristoteles auf der Stufe des Handwerkers. Die Handwerker haben nur ein Erfahrungswissen und sie machen z. B. die Häuser nach, die es schon gibt. [2] Auf einer anderen Stufe stehen die Künstler: die haben ein Wissen vom Allgemeinen, in diesem Fall vom Wesen des Hauses. Sie haben aber nicht nur dieses Wissen; dieses Wissen können auch andere haben, z. B. Philosophen, bzw. auch diejenigen, und das ist eine platonische Wendung, diejenigen, die sich ein Haus wünschen, die also genau wissen, was sie wollen, aber sie wissen es nur in der Form des Was. Sie können aus dem Was-Wissen nicht den Sprung machen zum konkreten Wie. Wenn sich so ein inelligenter Bauherr nicht damit begnügen will, sich von einem sogenannten Architekten, der doch nur ein Handwerker ist, einen nachmachbaren schon existierenden Entwurf liefern zu lassen, sondern wenn er ein neues Wie haben will, dann muß er sich an einen Künstler wenden, der das Wissen vom Was des Hauses auch hat und außerdem die Fähigkeit, ein neues konkretes Wie zu erfinden. Den nennt Aristoteles den Künstler, der diese beiden Fähigkeit vereinigt, die zusammenkommen müssen, damit ein neuer Entwurf zustande kommt. Im Raum des Wesenswissens kann etwas Neues gefunden werden, das kein Abklatsch von irgendwas ist.[3]

 

Es ist aber auch nicht einfach nur neu im Sinne von anders. Und damit komme ich zu einer wichtigen Ergänzung der skizzierten platonisch-aristotelischen Lehre von der Künstler-Leistung in Sachen Haus oder Bett oder Tisch. Der Künstler hat ein Vorwissen, das über die gegebenen konkreten Exemplare hinausreicht und auf einer anderen Ebene liegt, zu diesem Vorwissen muß aber dann noch eine Erfindungsgabe kommen, die zu Neuem führen kann. Zu Neuem kann man aber auch kommen, wenn man nur ein empirisches Vorwissen von gegebenen Häusern hat und dann einen Entwurf macht, der einfach von den gegebenen Häusern, womöglich von allen gegebenen Häusern abweicht. Das Vorgehen der Abweichung ist natürlich immer riskant – jedenfalls gegenüber herrschaftlichen oder mehrheitlichen Meinungen. Das Risiko kann sich aber auch in Sensation, Prestige und Berühmtheit wandeln, die sogar mit moralischen Ehrentiteln wie „Mut“ oder mit geschichtsphilosophischen Schmuckwörtern wie „Avantgarde“ erhöht werden.

 

Gegenüber der Erwartung eines Wesenswissens und einer von ihm getragenen Erfindung ist die Abweichung um keinen Deut besser als irgendein Nachmachen. Ich meine hiermit das bewußte und systematische bloße Abweichen vom konkreten Vorgegebenen und erspare mir jetzt irgendein Beispiel, weil ich nicht in die Architekturkritik eintreten will.

 

Leider gibt es das bloße Abweichen auch auf der Ebene der Wesensbestimmungen selber. Ich meine damit verbale und vielleicht sogar gestaltende (sofern möglich) Bestreitungen, Zuwiderhandlungen gegenüber Grundbestimmmungen des Bauwesens. Solche Zuwiderhandlungen sind häufig verbal-theoretischer Natur, da lassen sie sich leichter realisieren, und sie werden von Architekten eingesetzt, die ihre Abweichungen erster Stufe theoretisch aufwerten wollen. Konkrete Beispiele dafür nenne ich nicht. Ist auch gar nicht notwendig, denn die Beispiele sind bzw. sind demnächst omnipräsent. Interessanter, auch sympathischer sind solche Versuche, wenn sie von puren Künstlern – nicht im aristotelischen sondern im modernen Sinn – durchgeführt werden. Ich erinnere an Yves Klein, der die Ambition, Architekur nicht aus dem Element Erde sondern aus den drei anderen Elementen (Wasser, Luft, Feuer) zu machen, ernsthaft realisiert hat. Es ist aber dabei nicht Architektur sondern nur Kunst – im modernen Sinn des Wortes – entstanden.

 

Das Abweichen auf der Wesensebene, mit dem ich mich ernsthaft auseinandersetzen muß, ist dasjenige, das von Kollegen von mir, also von Philosophen und ähnlichen vorgetragen wird.

 

Ich nenne jetzt zwei Theoretiker, die sich, obwohl sie nicht nur berühmte sondern auch verdiente Theoretiker sind, zu Abweichungen von Wesensbestimmungen, auch anthropologischen, haben hinreißen lassen. Und zwar beide in geschichtsphilosophischen oder futurologischen Perspektiven. Marshall MacLuhan sieht zurecht in der Erfindung der Elektrizitätstechnik den entscheidenden Auslöser für unsere heutige Zivilisation. Und er hat erfreulicherweise im Rahmen seiner Medientheorie dem Haus ein eigenes Kapitel gewidmet.[4] Er meint nun, die Elektrizität würde nicht nur dieses Feuer sondern das Haus überhaupt als eine Ausweitung der Wärmekontrollmechanismen obsolet machen: indem sie die Einrichtung von globalen Thermostaten ermögliche. Damit würden die Hauswände hinfällig werden (wie auch die Sprachwände und überhaupt das Sprechen durch die elektrische Simulation von Bewußtseinsprozessen abgelöst werden könnten). Das thermostatische Hinfälligwerden der Hauswände sagt MacLuhan bereits für die Sechzigerjahre des 20. Jahrhundert nach Christus voraus.[5] Diese anscheinend enthusiastisch gemeinte in Wirklichkeit aber katastrophische Voraussage ist auch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ihrer Erfüllung noch kaum näher gekommen. Was hingegen die globale Thermostatik betrifft, so mehren sich in letzter Zeit einschlägige Prognosen - allerdings in Form von Warnungen vor einem Ansteigen der Erdwärme. Die mögliche katastrophische Erfüllung dieser Voraussage würde allerdings kaum die „Obsoloszenz des Hauses“ herbeiführen sondern meernahe Regionen zwingen, zu ihrem eigenen Schutz Mauern gegen das ansteigende Meer zu errichten. Die Sehnsucht nach der Abschaffung von Mauern ist eine moderne Krankheit und insgeheim ist sie vielleicht eine allerdings berechtigte Angst vor noch mehr Mauern.

 

Auch Vilém Flusser hat dem Haus eine unsichere Zukunft vorausgesagt - ausführlicher und aggressiver als MacLuhan. Flusser polemisiert gegen das Dach als solches, weil es „Subjekte“, d. h. Untertanen, erzeuge, die unter Gesetzen leben. Mauern erzeugen Häftlinge und Geheimnisse - daher wollen wir keine - sagt er. Fenster und Türen seien inkonsequente Gesellen, weil sie zwischen Öffnung und Schließung hin- und herpendeln.[6] Das ist allerdings eine richtige Aussage: Fenster und Türen verkörpern insofern das Wesen der Architektur, weil diese eben die Kombination, die Parataxe bzw. die Alternativik aus Schließung und Öffnung ist. Deshalb nenne ich dieses Wesen auch Pararchitektur.[7] Flusser weist dann darauf hin, daß unsere Häuser nicht nur von Türen und Fenstern durchlöchert sind sondern von anderen Röhren, Kanälen und Kabeln der „Information“ und „Kommunikation“.[8] Er zieht daraus den Schluß, daß wir eine neue Architektur bräuchten: „eine „dach- und mauerlose Architektur, die weltweit offenstünde (also nur aus reversiblen Fenstern und Türen bestünde)“; dann bliebe denn Leuten nichts  anderes mehr übrig, „als einander die Hände zu reichen“ ... Und es gäbe keine Natur mehr ...“[9]. Die Perspektive, der Flusser hier folgt, ist ein Radikalismus, der Architektur insgesamt fast völlig - eigentlich völlig - abschaffen will, sofern sie ins Dasein der Menschen noch irgendetwas Nichtmenschliches mischen will.

 

In dieser Perspektive zielt er auf Anarchitektur - die heute beinahe die offizielle Linie des Architekturdenkens darstellt (was die reale Architektur nicht daran hindert, tatsächlich aufs konträre monarchitektonische Paradigma der Bunker und Kapseln zu setzen).[10]

 

Anarchitektur und Monarchitektur – Mauerlosigkeit und kapselartige Totalschließung: das sind die beiden aktuellen – natürlich widersprüchlichen – Bestreitungen des Wesens der Architektur. Die Erfindung von Neuem verträgt sich sehr gut mit Wissen vom Wesen.



[1] Zitiert in Peter Eisenman: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur (Wien 1995): 235.

[2] Siehe Aristoteles: Metaphysik 980bf.

[3] Siehe Aristoteles: Metaphysik 1032b.

[4] Siehe Marshall MacLuhan:. Understanding Media. The Extensions of Man (Cambridge-

         London 1996) : 123ff.

[5] Siehe Marshall MacLuhan: op. cit.: 130.

[6] Siehe Vilém Flusser: Medienkultur (Frankfurt 1999): 162.

[7] Siehe : Monarchitektur, Anarchitektur, Pararchitektur, in: ders.: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): 113ff.

[8] Siehe Vilém Flusser: op. cit.: ebd.

[9] Vilém Flusser: op. cit.: 163.

[10] Der anarchitektonische Anti-Mauer-Affekt ist ja auch bei McLuhan so weit gegangen, daß er sogar die Sprachen, weil sie Grenzen sind, für abschaffungswürdig hält.