Walter Seitter

 

 

Griechen, Plethon, Deutsche

 

 

Es kommt vor allem darauf an,

 die Geschichte

mit der Geographie zu verbinden.

François Dagognet

 

 

 

 

 

Ich spreche zu Ihnen von Benennungen und Umbenennungen, von Erzählungen und Wunschformulierungen. Also von Aussagen. Handelt es sich dabei nur um Wörter oder sind die Aussagen spezifische Aktionen? Gibt es Aussageneexemplare, Aussagenbedingungen und Aussagenresultate, die mit dem Leben der Menschen zu tun haben, die ins Leben von Menschen eingreifen und da etwas bewirken? Etwa Realisierungsprogramme und Identitätsvorlagen, Selbstbestimmungen und Fremdbestimmungen, Vergessenheiten und Wiederfindungen?

 

Über Wörter reden und das sogar gern – das tun die Philologen erklärtermaßen. Sie reden über die Wörterkunststücke, über die Wörterarchitekturen, die man Dichtung nennt oder Literatur. Obwohl mein heutiges und hiesiges Thema nicht unmittelbar mit Dichtung zu tun hat, nehme ich meinen Ausgangspunkt bei einem philologischen Buch, einem Buch über die deutsche Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, dessen These allerdings äußerst weitreichend und zugespitzt oder soll man sagen aufgeregt oder gar hysterisch erscheint. Das Buch tut nämlich so, als würde es eine triftige Aussage über das Schicksal eines Volkes machen. Und diese Aussagenambition hängt eng mit dem Zeitpunkt des Erscheinens des Buches zusammen: es ist das Jahr 1935, das in der deutschen und in der europäischen Politikgeschichte einen bekannten Stellenwert hat. Ein Jahr, das die Formulierung der These des Buches gewissermaßen erleichtert hat. Aber so leicht war die Thesenformulierung im Jahre 1935 auch wieder nicht, wie sie im Jahre 1945 oder 1950 gewesen wäre, als man über die Ergebnisse der Politik der Dreißigerjahre sicher und vollständig Bescheid zu wissen selbstverständlich glauben konnte.

 

1935 also erschien Eliza May Butler: The Tyranny of Greece over Germany. A study of the influence exercised by Greek art and poetry over the Great German writers of the eighteenth, nineteenth and twentieth centuries (Cambridge 1935). Die Verfasserin, eine englische Germanistin, die von 1885 bis 1959 gelebt hat, läßt schon im Titel erkennen, wie dramatisierend sie ihre These formuliert. Sowohl politische wie auch psychiatrische Extremzustände werden bemüht, um das Mißgeschick Deutschlands zu charakterisieren: Tyrannei, Sklaverei, Opferstatus, Besessenheit, Obsession, Lustunfähigkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien das Buch in verkürzter Textfassung und mit verharmlosendem Titel auch in Deutschland: Deutsche im Banne Griechenlands (Berlin 1948). Es erhielt dann auch einige kritische Besprechungen, die sich vor allem an dem psychologisierenden Ansatz stießen, mit welchem die Akteure des deutschen Unglücks behandelt werden. Diesem Ansatz läßt sich allerdings auch insofern etwas abgewinnen, als die Charakterskizzen – etwa von Winckelmann, Schiller oder Nietzsche – keineswegs irgendein Dubioses oder Dämonisches herbeireden. Vielmehr wird das – angebliche - Mißgeschick Deutschlands auf eine Art Nationalcharakter zurückgeführt, der aber wiederum nicht psychologisch oder gar biologisch gefaßt wird sondern mit gewissen kulturellen, intellektuellen Eigentümlichkeiten erklärt wird.

 

Eine Zusammenfassung des butlerschen Nationalporträts lautet so: „For the Germans cherish a hopeless passion for the absolute, under whatever name and in whatever guise they imagine it ... the Germans are unique perhaps in the ardour with which they pursue ideas and attempt to transform them into realities. Their great achievements, their catastrophic failures, their tragic political history are all impregnated with this dangerous idealism. If most of us are the victims of circumstances, it may truly be said of the Germans as a whole that they are at the mercy of ideas. This strange defencelessness has set its seal on their literature with its prolonged periods of slavish imitation of foreign countries, its unbalanced enthusiasms, its helpless subjection to catchwords, fashions and aesthetic theories; but is also responsible for highly original, beautiful, sphinx-like monuments, deeply philosophical in content.“[1]

 

Diese recht plakative Charakterisierung des „deutschen Geistes“ kommt uns sicherlich nicht ganz unbekannt vor, sie enthält Aspekte, die um 1935 schon längst geläufig waren, nachdem sie im 19. Jahrhundert auch von zwei Protagonisten im Buch Butlers angedeutet worden waren: von Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche. An dieser Stelle kann auch schon erwähnt werden, daß im Jahre 1935 ein anderes Buch erschienen ist, das noch stärker vom politischen Augenblick motiviert war, das ebenfalls den historischen Ursachen der deutschen politischen Entwicklung nachging, diese aber in einer bestimmten Verflechtung zwischen Geistesleben einerseits und gesellschaftlichen, staatlichen bzw. antistaatlichen Strukturen andererseits aufsuchte. Helmuth Plessner, der in den Zwanzigerjahren wichtige Bücher zur philosophischen, auch zur politischen Anthropologie geschrieben hatte, verfaßte damals im niederländischen Exil die Schrift Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Dieses Buch wurde 1959 unter dem Titel Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes neu aufgelegt und wurde zu einem Klassiker einer weiter gefaßten anspruchsvollen „Vergangenheitsbewältigung“.

 

Wie aber hat Butler ihre summarische Diagnose näher bestimmt? Zwischen ihre dramatisierend-politisierende Gesamtbeurteilung und ihre einzelnen Autorenanalysen schiebt sie eine These ein, die den Deutschen eine eigenartige Politik der literarischen Gattungen zuschreibt. Sie meint, daß anderswo die Dichter ihre eigenen Visionen entwerfen; in Deutschland suchen sie ihre Inspiration bei Philosophen. Goethe habe sich von Spinoza genährt, Schiller von Kant, die Romantiker von Fichte und Schelling ... Die deutschen Dichter hätten sich auf die Schultern von Philosophen gestellt, um mehr sehen zu können; sie hätten sich nicht damit begnügt, die in der Schönheit enthaltene Wahrheit darzustellen, sondern wollten die poetische Schönheit auf der reinen und absoluten Wahrheit der Philosophie begründen.[2]

 

Eine Feststellung, die – als eine Vorhaltung – schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem österreichischen Dichter Franz Grillparzer gegen manche seiner deutschen Kollegen formuliert worden ist. Grillparzer wird von Butler in einem spezielleren Kontext auch genannt, aber gleichzeitig als Österreicher als nicht repräsentativ für deutsche Geistesprobleme ausgeschieden, obwohl das der politischen Lage jener Zeit nicht ganz entspricht.[3]

 

Der direkte Wille zur reinen Wahrheit hat nach Butler schon im 16. Jahrhundert Deutschland in eine Sondersituation geführt, da hier die sogenannte Renaissance die Form der sogenannten Reformation angenommen habe, in der es nicht um die Wiedergeburt der Schönheit in Dichtung, Kunst und Leben gegangen sei sondern um eine Reinigung der Wahrheit, dieses Mal der religiösen Wahrheit, mit der noch dazu eine Reinigung der Erlösung verbunden sein sollte. An dieser Stelle füge ich eine Beobachtung ein, die über die deutsche Reformation hinausgeht und den religiösen Sprachgebrauch im Deutschen betrifft. Soweit ich sehe (und ich sehe nicht allzuweit) wird der Anhänger der christlichen Religion nur im Deutschen mit dem bloßen Wort „Christ“ bezeichnet, also mit dem nackten und sogar verkürzten Namen, der als Zuname zu Jesus üblich ist. Der Zuname der göttlich-menschlichen Person, der sowohl im Griechischen wie im Lateinischen ein Personal- und Geschlechtssuffix trägt (Christós, Christus) ist speziell in der Reformation (aber auch schon vorher) zu „Christ“ entlatinisiert, gereinigt und quasi eingedeutscht worden ist – und nun deckt er sich – o Wunder oder Zufall oder was - mit der Bezeichnung für den Christus-Anhänger, der in jeder ordentlichen Sprache wiederum ein Suffix tragen muß: eben das Anhänger-Suffix: also – ianus oder –ianer oder –ist (Beispiele Christianus, Hegelianer, Marxist). Die Streichung der Suffixe, vor allem die Streichung des Anhänger-Suffixes macht den deutschsprachigen Christus-Anhänger sprachlich zu einem bloßen und vollständigen Christus-Double.

 

Ich weiß nicht, ob diese Sprachbeobachtung schon von vielen gemacht worden ist, aber sie bezieht sich bereits auf den zentralen Punkt meines Vortrags. Das ist der Punkt der „Identität“ im anthropographischen Sinn – und zwar speziell bei den Deutschen. Diese Art von „Identität“, die heute gang und gäbe ist, scheinbar harmlos und unvermeidlich, wird von mir nur unter Anführungszeichen besprochen. Denn es gibt sie erst seit kurzem, seit dieser Nachkriegszeit (woraus sich ein eigenes Thema machen ließe). Der deutsche „Christ“ ist ein Symptom für eine radikal-totale, für eine monolithische Identitätsbildung. Und es paßt gut, sie hier in Weimar zu erwähnen, das weitab östlich und nördlich vom Limes Romanus liegt, ungefähr in der Gegend des Limes Saxoniae, wo Land und Leute erst im frühen Mittelalter mit knapper Not romanisiert, ein bißchen auch hellenisiert worden sind, und das alles unter der überwältigenden Dominanz der Christianisierung, welche dann später – ausgehend von dieser Luther-Gegend da – noch einmal radikalisiert worden ist.

 

Ich will aber nicht bei dieser Identitätsbildung stehen bleiben sondern mit Butler und ihrem Gewährsmann Heine dazu übergehen, daß die Reformation neben dieser im übrigen ziemlich unlebbaren Identitätsproduktion auch andere Folgen gezeitigt hat, etwa Freiheiten für Wissenschaften und Philosophie, welche dann, nämlich die Philosophie, von der Religion die Leitfunktion übernahm. Eine Leitfunktion, die indessen nicht so massenwirksam werden konnte wie die Religion und die sich außerdem, um überhaupt bei mehr als bei ein paar Hagestolzen Eingang zu finden, mit der Sehnsucht nach Schönheit, mit der Kunst liieren mußte.

 

Erst nach Johann Joachim Winckelmanns Ausbildung eines mit dem Griechentum gleichgesetzten Schönheitsideals und Menschenbildes und seiner Weiterbearbeitung durch Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder setzt laut Butler die Geschichte ein, in welcher die „Tyrannei der Griechen“ über „einige überragende Geister“, zunächst vor allem über Schiller, Goethe, Hölderlin Platz gegriffen hat.[4] Butler beschreibt die „Invasion Deutschlands durch die mythischen Bewohner eines Griechenlands, das es weder zu Lande noch zur See je gab“ nicht als einen Prozeß, der sich gleichmäßig fortsetzt;[5] vielmehr schreibt sie zu jeder der genannten Personen eine kleine Monographie, um zu zeigen, wie das Griechenideal jeweils ganz unterschiedlich eingeschrieben und umgeformt worden ist und zu unterschiedlichen Dichterpersönlichkeiten und Werkprofilen geführt hat. Eben damit hat es an Kraft gewonnen, an der Kraft und Übermacht, die Butler „tyrannisch“, „obsessionell“ nennt – und die im Falle Hölderlin allerdings auch die empirische Person des Dichters in Mitleidenschaft gezogen hat. Während Schillers Ode Die Götter Griechenlands – ob nun Abschiedsgesang oder doch auch Begrüßungshymnus sowie Rebellion gegen den neuen Christengott – in funkelnder Schönheit dasteht und doch auch den Dichter stehen läßt, wurde Hölderlin, den Butler als „geistige Kreatur Schillers“ bezeichnet, zermalmt, sei es von seiner Griechenland-Nostalgie, sei es von dem Antagonismus zwischen den Gottheiten.[6]

 

„Hölderlin ist der letzte in einer Linie von Schriftstellern und Dichtern, denen Winckelmanns Griechenland durch Lessing, Herder, Goethe und Schiller übergeben worden war .... Dieser einzigartige unter Winckelmanns Schülern fand indessen keine Nachfolger. Er ist in jeder Hinsicht eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts – mit der bemerkenswerten Ausnahme Nietzsches, welcher ihn kannte und verehrte... Der Konflikt zwischen Heidentum und Christentum wurde bis zu einem tragischen Ende ausgefochten im Geist eines jungen Mannes, für den es sich nicht bloß um ein philosophisches oder ein psychisches Problem handelte, sondern um geistiges Überleben oder Zugrundegehen. Und all das geschah, weil Winckelmann mit seiner Entdeckung Griechenlands seine Landsleute gefesselt und wehrlos einer Idee ausgeliefert hatte.“[7]

 

In der Folge schildert Butler, wie Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche gegen Winckelmanns Griechen-Ideal rebellierten und wie sie eben damit dieses Ideal bei den Deutschen vertieften und erhöhten. Namentlich Nietzsche mit seinem „Übermenschen“ und Stefan George mit seiner in Knabenvergottung inkarnierter Antikensucht hätten im Denken der Deutschen Mythenschablonen geschaffen, die dann im 20. Jahrhundert auch politisch wirksam geworden seien.[8]

 

Butler schließt mit der traurigen Feststellung: „In what other country would the discovery of serenity, simplicity and nobility in art have brought about such dire results? And where else would the name of the god Dionysus have had such a dreadful effect? ....  only among a people at heart tragically dissatisfied with themselves could this grim struggle with a foreign ideal have continued so long. To an Anglo-Saxon mind it seems wasteful, deplorable and almost perverse that the beauty of Greek art and poetry should have caused so much frantic pain and so little pure pleasure. With the exception of Winckelmann none of the German Hellenists was really capable of the pagan attitude to beauty which Goethe assiduously cultivated and Heine vociferously proclaimed. Objective, dispassionate contemplation was beyond their powers.“[9]

 

Natürlich kann man so eine aus dem Jahre 1935 stammende pathologisierende Charakterisierung der Deutschen und der deutschen Philhellenen im besonderen aus verschiedenen Gründen kritisieren und abtun. Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur lehrt aber, daß sie keineswegs abgetan ist, sondern daß sie, wenngleich mit großem zeitlichem und mit großem, auch intendiertem methodischem Abstand weitergeschrieben wird – vornehmlich wiederum von Frauen.

 

1996 veröffentlichte die amerikanische Historikerin Suzann L. Marchand die großangelegte Untersuchung Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750-1970 (Princeton 1996), in der sie nicht auf wenige große Autoren eingeht, sondern auf die wissenschaftlichen und pädagogischen Bewegungen und Institutionen, vornehmlich in den Altertumswissenschaften, wobei sie hauptsächlich auf die Ausarbeitung und Durchsetzung der Bildungsideale abzielt, und damit kommt sie der Themenstellung näher, die ich oben als „Identitäts-Bildung“ bezeichnet habe.

 

Die philhellenische Identitäts-Bildungs-Programmatik, die den Deutschen das Griechensein anempfehlen wollte, nahm ihren Ausgang bei der Forderung, die römischen, italienischen und französischen Überlieferungen d. h. Vermittlungen beiseite zu lassen und die Entdeckung des Griechischen selber in Angriff zu nehmen, um dann in der Begegnung zwischen dem Deutschen und dem Griechischen die ursprüngliche Verwandtschaft zwischen dem Deutschen und dem Griechischen zu entdecken, welche das programmatische Griechenwerden der Deutschen begründen mochte.[10] Diese Programmatik bekam bei Winckelmann rousseauistische Züge, denn er assoziierte mit den Griechen der Antike Schönheit, Natürlichkeit und Freiheit.[11] Andererseits sah er diese erwünschten Qualitäten nur bei Völkern mit günstiger klimatischer Situation und guter rassischer Veranlagung. Die Möglichkeit schöner Kunst sei einem Volk von Gott geschenkt. Eine sozusagen ästhetische Variante von „auserwähltem Volk“, die George Mosse Winckelmann an den Anfang des rassistischen Denkens in Deutschland setzen läßt.[12]

 

2004 legte Esther Sophia Sünderhauf die gleichfalls sehr umfangreiche Untersuchung Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945 (Berlin 2004) vor, die sich auf die zuvor genannten bezieht und die den deutschen Philhellenismus bzw. die Winckelmann-Rezeption weniger literaturwissenschaftlich oder wissenschaftshistorisch verfolgt. Es geht ihr vielmehr um die ästhetischen, häufig auch erotisch getönten und schließlich politisch wirksamen Konsequenzen des deutschen Griechenkultes und deshalb gelingt es ihr, die etwas wilden oder steilen Behauptungen Butlers zu konkretisieren, aber auch in ein breiteres Spektrum auseinanderzulegen.

 

Sie verweist darauf, daß sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Annahme einer „Verwandtschaft Griechenlands und Deutschlands“ verstärkte, welche Verwandtschaft zunächst als kulturelle, so bei Wilhelm von Humboldt, dann auch als rassische verstanden wurde.[13] 1853 schrieb Ernst Curtius: „Durch Homer sind wir zu den Nibelungen gekommen, die Hellenen haben uns zu uns selbst und zur Natur zurückgeführt.“[14]

 

Wie schon erwähnt konnte die Winckelmann-Rezeption nur deswegen zu einem Faktor der zumindest programmierten Identitäts-Bildung werden, weil die Kunst mit ihrer Faszinationsmacht und weil die griechische Kunst oder deren Nachahmung speziell mit ihrem ästhetischen Menschenideal relativ leicht libidinöse Besetzungen also Begeisterungen möglich macht. Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert steigerte sich diese Faszinationsmacht ausdrücklich zu (quasi)religiösen Ansprüchen, sie nahm auch die Form von lebensreformerisch-therapeutischen Verheißungen an und mehr und mehr wurde das antike Menschenideal zum Maß der Menschenbildung, im Nationalsozialismus allerdings auch – jedenfalls angeblich – zum Kriterium des Menschseins.[15]

 

Im Nationalsozialismus war das Programm der Griechen-Nachahmung, war die Aufrechterhaltung und Durchsetzung des griechischen Menschenideals eine zwar keineswegs unumstrittene aber doch von Adolf Hitler bevorzugte Option.[16]

 

Das Griechenwerdenwollen wurde natürlich seit dem 18. Jahrhundert nicht nur in Deutschland zu einem Bildungsideal geworden. England wird da vorausgegangen sein, in allen Ländern fanden sich welche, die von diesem Ideal angezogen wurden. Butler behauptet jedoch, „die Deutschen haben Griechen sklavischer nachgeahmt, sie waren stärker von ihnen besessen, sie haben sie weniger assimiliert als irgendeine andere Rasse. Die Reichweite des griechischen Einflusses in Europa ist kaum abzuschätzen, seine Intensität ist in Deutschland am stärksten.“[17] Sie behauptet, daß die literarische Akkumlierung und Steigerung des Griechenideals von Winckelmann zu George eine Intensitätssteigerung bedeutet, die neue Qualitäten hervorgebracht habe – die sie allerdings nur negativ einschätzt. Sünderhauf kann zeigen, daß diese Akkumulierung gerade im 20. Jahrhundert in Deutschland zu Identifikationsmustern unterschiedlichster Ausprägung geführt hat, von denen einige in den Nationalsozialismus einmündeten.

 

Ich möchte die Frage stellen, ob die angedeuteten Formulierungen  des Griechen-Ideals Programme des Griechenwerdens darstellen, Programme für eine Identitätssuche und -findung, die formal dem oben erwähnten reformierten Christ-Sein entspricht: daß nämlich jemand etwas ist oder jemand ist, etwas anderes oder jemand anderer, und das total und ungeteilt; und zwar deswegen, weil nur dieses Etwas-Sein den Zugang zum Heil – im Falle der Religion – ermöglicht; und weil ein anderes Etwas-Sein den Zugang zum Heil verhindern würde. Auf diese Weise bekommt eine partikulare Bestimmung, nämlich eine Religion, den Status einer gewünschten oder geforderten Andersheit, deren Andersheit nicht mehr empfunden werden soll, da sie zur einzigen Eigenheit geworden ist

 

Butler behauptet, daß das Griechen-Ideal in Deutschland sehr wohl den Status einer Identitätsform erhalten hat, von der man sich eine vorbehaltlose und totale Identitätserfüllung erwartet. Natürlich galt das vor allem im frühen 19. Jahrhundert nur für relativ elitäre Individuen und Gruppen, eben für die Gebildeten. Aber schon bald kam es in dieser Graekomanie, die sich nicht bloß auf Betrachtung und Verehrung bezog sondern auf ein bestimmtes Selberseinwollen, zu Kontroversen, auch zu Auswüchsen, die auf Kritik stießen, sodaß überlegene Geister wie Goethe oder Schiller, die selber Protagonisten der Griechen-Faszination waren, sich veranlaßt sahen, mäßigend oder gar ironisch kommentierend einzugreifen.

 

Goethe: „Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei's.“

 

Schiller: Griechheit

          

Kaum hat das kalte Fieber der Gallomanie uns verlassen,

    Bricht in der Gräkomanie gar noch ein hitziges aus.

Griechheit, was war sie? Verstand und Maß und Klarheit! drum dächt' ich,

    Etwas Geduld noch, ihr Herrn, eh' ihr von Griechheit uns sprecht!

Eine würdige Sache verfechtet ihr; nur mit Verstande,

    Bitt' ich, daß sie zum Spott und zum Gelächter nicht wird.

 

Treibt Schiller seine Ironie so weit, daß er das Metasubstantiv „Griechheit“ absichtlich von dem lakonisch verkürzten Nomen „Griech“ aus bildet, um einen gewissen gräkomanen Purismus zu persiflieren? Oder bewegt er sich mit größter Selbstverständlichkeit in dem lutherisch-deutschen Identitätspurismus, der den Deutschen eine radikale suffixlose Nomen-Bestimmung verpassen will? Eine Frage an die Weimarer Philologie.

 

Die Behauptung, die ich den genannten Büchern entnehme, geht dahin, daß es in Deutschland kulturelle Strömungen gegeben hat, die den Deutschen das Griechenwerden, das Griechensein eindringlich nahegelegt, gelegentlich oder gewissermaßen sogar aufgedrängt haben. Dabei denke ich weniger an pädagogische oder politische oder gar militärische Zwangsmaßnahmen. Die hat es in früheren Zeiten bei der Einführung des Christsein gegeben – etwa im 8. Jahrhundert für die Leute im Norden und Osten. Beim Griechenwerden von Deutschen handelt es sich eher um Liebhabereien, die einzelne oder Gruppen für sich kultivieren – im Sinne einer vielleicht überzogenen „römischen“ oder „europäischen“ Rezeptionsbereitschaft. Die „römische“ oder „europäische“ Attitude besteht ja laut Rémi Brague darin, fremde Kulturen anzunehmen und sich zu eigen zu machen, sodaß man auf diese Weise doch noch zu einer „Identität“ kommt. Die deutsche Griechenwerdungsfaszination wäre dann nur eine gesteigerte Form so einer ziemlich selbstlosen Rezeption.[18]

 

Die Frage ist, ob es sie heute noch in einer zugespitzten Form irgendwo gibt. Es gibt sie bei Martin Heidegger und in der Heidegger-Nachfolge. Nicht auf der Ebene des Griechisch-Seins sondern auf der des Griechisch-Sprechens, dem innerhalb der Philosophie eine Sonderstellung eingeräumt wird, welche sich nicht auf die bekannte Tatsache zurückführt, daß die Philosophie im Griechischen erfunden worden ist und dann viele Jahrhunderte lang nur im Griechischen praktiziert worden ist. Es handelt sich vielmehr um eine Sonderstellung, die dem Griechischen von heute aus und zwar vom Deutschen aus zugebilligt wird.

 

Martin Heidegger: „Ich denke an die besondere innere Verwandtschaft der deutschen Sprache mit der Sprache der Griechen und deren Denken. Das bestätigen mir heute immer wieder die Franzosen. Wenn sie zu denken anfangen, sprechen sie deutsch; sie versichern, sie kämen mit ihrer Sprache nicht durch... Es wäre gut, wenn ... man endlich bedächte, welche folgenreiche Verwandlung das griechische Denken durch die Übersetzung ins Römisch-Lateinische erfahren hat, ein Geschehnis, das uns noch heute das zureichende Nachdenken der Grundworte des griechischen Denkens verwehrt.“[19]

 

Auch wenn die konkreten historischen Tatsachen, die Heidegger hier anführt, unbestritten sein mögen, so spricht aus seiner Rede doch die exakte Übernahme des Schemas der exklusiven „Deutsch-Griechheit“, das in Deutschland um 1800 erfunden worden ist. Indem Heidegger nur das Griechische und das Deutsche als philosophiefähige Sprachen gelten läßt, das Lateinische und das Französische jedoch nicht, spricht er dem Deutschen eine Vorrangstellung zu, die auf den ersten Blick natürlich eine Hintanstellung, eine Unterordnung unter das Griechische sein will. Aber wie die weiteren Untersuchungen zur sogenannten „Tyrannei Griechenlands über die Deutschen“ zeigen, liegt in dieser Tyrannei eine Umdrehungstendenz, die vielleicht von Anfang an wirksam war, die nämlich der deutschen Identifizierung mit dem Griechischen nicht nur einen Monopolanspruch sondern auch einen Bestimmungsanspruch vindiziert.

 

Im Jahre 2002 hörte ich im Rundfunk ein Gespräch mit Hans-Georg Gadamer. Es war wenige Wochen vor seinem Tod. Und er sagte, daß Aristoteles nur deswegen ein großer Philosoph gewesen sei, weil er nicht Lateinisch schrieb. Gadamer, dem man gern bescheinigt hat, er hätte das Denken seines Lehrers Heidegger „zivilisiert“, hat da nicht etwa bloß einen antilateinischen Affekt geäußert, nein er hat die Auserwähltheit der griechischen Sprache – fürs Philosophieren – ganz im Sinne Heideggers neuerlich behauptet. Und zwar über die  Banalität hinaus, daß Aristoteles eben Grieche war (und vielleicht auch nur die griechische Sprache beherrschte und verwendete). Die Aussage will verblüffen – doch bleibt sie im Rahmen des Schemas der Deutsch-Griechheit, wie ich es hier skizziert hat.

 

Kurze Zeit später sprach ich davon zu einem Berliner Medientheoretiker, von dem ich vermutete, er würde mit heideggerischen Ansichten und daher auch mit Gadamers Aussage sympathisieren. Weit gefehlt. Seine Antwort setzte auf die kleine Gadamer-Verblüffung noch eins drauf, eine große Verblüffungsstufe Nummer 2. Er sagte nämlich, Gadamer liege vollkommen falsch. Aristoteles habe gar nicht griechisch geschrieben, er konnte gar nicht Griechisch. Nicht etwa aus irgendwelchen persönlichen Gründen, sondern weil zu seiner Zeit die griechische Sprache ihr eigentliches Wesen, ihre spezifische Tonalität, schon verloren habe. Der deutsche, relativ junge Wissenschaftler, sprach also am Anfang des 21. Jahrhunderts dem Schriftsteller Aristoteles das sprachliche Griechentum ab, das Hans-Georg Gadamer ihm eben noch lobend zugebilligt hatte (als er ob er das nötig hätte). Die Überlagerung dieser beiden Aussagen, die jetzt wenige Jahre zurückliegen, zeigt, daß der von Butler, Marchand und Sünderhauf untersuchte Komplex der von mir so genannten Eingebildeten Deutsch-Griechheit bis in die Gegenwart weiterwirkt, und zwar nicht bloß weitergeschleppt wird, sondern geradezu neuartige Ausbildungen von sich gibt – die aber vermutlich von Anfang an seine Dynamik bestimmt haben.

 

Zu dieser sehr indirekten Aristoteles-Anekdote füge ich noch auf eine andere hinzu, die geeignet erscheint, den Gesichtspunkt, auf den es mir ankommt, zu präzisieren. Im Herbst 2007 erschien in Paris ein Buch mit dem ziemlich aufgeregten Titel Aristote ou le vampire du théâtre occidental (Paris 2007). Zunächst las ich nur einige Rezensionen und aus denen gewann ich den Eindruck, daß in diesem Buch Aristoteles geradezu vorgeworfen wird, er habe mit seiner Poetik, mit seiner Theoretisierung der Tragödie das Theater, auf das er sich bezieht, nämlich die attische Tragödie verkannt, mit einer verfälschenden Begrifflichkeit beschrieben und im Grunde genommen den Athenern ein wichtiges Identitäts-Herstellungsmedium entwendet, womit er der alexandrinischen Imperialpolitik zugearbeitet habe. Als Nicht-Athener sei er weder in der Lage noch daran interessiert gewesen, die Theaterveranstaltungen der Athener in ihrer rituellen und politischen Funktion zu würdigen. Als ich aber dann vor kurzem das Buch selber las, sah ich, daß die Autorin, die Pariser Latinistin Florence Dupont, Aristoteles nicht einfach im Namen des ursprünglichen griechischen Theaters kritisiert und verurteilt. Aristoteles habe ein eher „literarisches“ und leicht übertragbares Theaterverständnis geschaffen, das sich in der Tat von einer „spektakulären“ Theaterauffassung unterscheide, welche aber nicht nur in der ursprünglichen attischen Tragödie, sondern auch anderswo und später, so in der römischen Komödie, in Molières Ballett-Komödien, in außereuropäischen Theaterformen zur Realisierung komme. Florence Dupont spielt also nicht die eigentliche Griechin, sondern analysiert komparatistisch Theaterformen und Theatertheorien. Man kann sie folglich nicht der deutschen Geistesbewegung zurechnen, in der sich Deutsche zu eigentlichen Griechen, womöglich zu ursprünglichen Griechen, zu vorsokratischen Griechen machen.

 

Mit Heidegger bin ich allerdings zu einer Disziplin übergegangen, die in den von mir herangezogenen Untersuchungen kaum bearbeitet wird, nämlich zur Philosophie – abgesehen davon, daß Butler in der Philosophie-Abhängigkeit deutscher Dichter eine Voraussetzung für die Ausbildung des deutschen Griechenkomplexes sieht. Die Heidegger-Version innerhalb der von mir aufgeworfenen Problematik bedürfte eine eigenen Untersuchung.

 

Allerdings läßt sich auch die Hölderlin-Version, die ich nur herbeizitiert habe, keineswegs auf das Schema „Vision und Nostalgie eines einsamen Dichters“ reduzieren. Zwar hat er ebensowenig wie die übrigen von Butler genannten großen Protagonisten das real existierende, das gleichzeitig immer noch existierende und geographisch immerhin auffindbare Griechenland je betreten. Und doch dürfte er der einzige – in der Reihe zwischen Winckelmann und George – sein, der zu diesem Griechenland reale Beziehungen aufgenommen hat. In seinem Briefroman Hyperion und in manchen Gedichten bezog er sich auf das Griechenland, das zu seinen Lebzeiten existiert hat, auf das Griechenland abseits von Deutschland und neben ihm: auf den ersten Befreiungskrieg um 1770, auf die napoleonischen Feldzüge 1797 und 1798, in die man neuerlich Hoffnung für Griechenland setzte. In Stuttgart begegnete er einem griechischen Kaufmann und möglicherweise wußte er auch von den Aktivitäten des griechischen Dichters und Revolutionärs Rhigas Velestinlis (1757-1798).[20]

 

Ich benütze dieses kleine Faktum des hölderlinschen Interesses für die Außenwelt als Brücke zu einer anderen Menge von Tatsachen: nämlich zur Tatsache, daß es neben der deutschen Geistesgeschichte, auch neben der ganzen großen sogenannten europäischen, hauptsächlich westeuropäischen Geschichte, die sich um Italien, Frankreich, Deutschland und so weiter gedreht hat, daneben und synchron hat es in der gesamten Nachantike auch Griechenland gegeben. Dieses nachantike Griechenland hat aber kaum unter dem offiziellen Namen „Griechenland“ existiert. Zunächst war es eine Provinz, mehr als eine einzige Provinz, im oströmischen Reich, das sich „Reich der Romäer“ nannte. Jenes Reich hat alsbald an Umfang verloren, umso mehr wurde es zu einem „griechischen Reich“, wie es denn auch 1734 – also nach seinem Untergang - von Montesquieu genannt wurde. Im Mittelalter war seine Geschichte sehr turbulent – nicht nur weil die Osmanen an seinen Grenzen drängten und nagten, sondern weil diverse Westeuropäer zerstörerisch eindrangen, viele kleine Fürstentümer und Enklaven gründeten, zeitweilig sogar ein impertinentes sogenanntes „Lateinisches Reich“.

 

Im 15. Jahrhundert wurde die Lage für das dortige Kaisertum so brenzlig, daß der Kaiser persönlich mitsamt seinen Beratern sowie mit der gesamten kirchlichen Hierarchie den Weg nach Westen, nach Ferrara und Florenz, antrat, um wieder einmal über eine Union der Kirchen zu verhandeln – und zwar deswegen, weil man sich davon eine wirksame Unterstützung gegen die osmanisch-türkische Übermacht erhoffte. Die Sache gelang nur zum Schein und 1453 war es mit dem Kaisertum der Romäer endgültig aus. Nicht aber mit Griechenland überhaupt, denn die Leute, die Sprache, auch die griechisch-orthodoxe Kirche konnten sich halten – und zwar in einem Raum, der noch weit über die Grenzen des heutigen griechischen Staates hinausging und alle kleinasiatischen Küsten umfaßte. Venedig besaß immer noch einige Enklaven in diesem Griechenland, welches im Wissen der Westeuropäer auch noch weiterexistierte. Das bezeugt etwa eine Nürnberger Landkarte aus dem frühen 18. Jahrhundert, die ausdrücklich und tatsächlich eine Landkarte von Griechenland („Graeciae et Archipelagi“) ist. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts setzte in diesem Griechenland eine Freiheitsbewegung ein, die Hölderlin sehr früh wahrnahm und in seine Dichtung aufnahm. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam es dann zum großen und schließlich erfolgreichen Befreiungskrieg, der von den deutschen Intellektuellen erstaunlich wenig unterstützt wurde (Hölderlin war schon verstummt, Wilhelm von Humboldt bildete eine Ausnahme). Es war der bayerische König, der der Freiheit  der aktuellen Griechen in seiner Hauptstadt ein Denkmal setzte.

 

Dieses jetzt sogar politisch existierende Griechenland entsprach allerdings in vielerlei Hinsichten nicht dem Bild, das sich die Dichter und Denker von dem antiken, von dem wahren, von dem echten Griechenland gemacht hatten. Eine wissenschaftliche Reaktion auf die Andersheit des neuen Griechenland war diejenige des Historikers Jakob Philipp Fallmerayer, der zum Entsetzen der  Philhellenen erklärte, die heutigen Griechen seien eigentlich Slawen und Albaner, die etwas Griechisch sprechen.[21]

 

Gerade weil sich die westeuropäischen Philhellenen so schöne Bilder von den wahren Griechen zurechtgelegt hatten, standen die westeuropäischen Intellektuellen, die die wirklichen Griechen der Gegenwart überhaupt zur Kenntnis zu nehmen bereit waren, vor der Frage: wie ihre Sprache, ihre Kultur einschätzen und überhaupt benennen? Wie überhaupt sie benennen? Gerade was die Benennungsfrage anlangt, gab es schon weit zurückliegende Weichenstellungen. Das spätantike, das mittelalterliche Griechenland ging im Kaiserreich der Romäer auf, die Selbstbezeichnung „Grieche“ war durchaus unüblich, ja das griechische Wort für „Grieche“, das „Hellene“ lautet, war im Mittelalter die Bezeichnung für einzelne Intellektuelle, die dem alten Heidentum nachhingen. Im 15. Jahrhundert gingen wenige Intellektuelle – vor allem der Philosoph Georgios Gemistos Plethon (1355-1452) – vorsichtig in die Offensive mit dieser Selbstbezeichnung. Sie bestritten sogar dem Kaiser, auch wenn sie ihm treu ergeben waren, daß er der Kaiser der Römer sei, sie seien doch alle Hellenen. Der Decktitel „römisch“ geriet also schon in innere Diskussion. Als 1453 die politische Herrschaft osmanisch-türkisch wurde, die Griechen aber an ihrer Kultur festhielten, begannen sie, vor allem, wenn sie nach Italien ausgewandert waren, ihre angestammte Kultur, erst recht ihr untergegangenes Reich, mit einem neuen Decknamen zu bezeichnen, der ein uralter und gleichzeitig höchst banaler, ein rein geographischer Name war, Name einer ziemlich unbedeutenden Stadt, nämlich der Stadt, bevor sie um 330 die Konstantinsstadt geworden war: Byzantion. Aus der großen Kaiserstadt wurde jetzt ein bloßer Ort: ein Ort, der für eine großen Vergangenheit stand, die fast nur mehr Vergangenheit war – und die bekam jetzt den Namen aus der Vorvergangenheit.

 

Das begann wie gesagt schon im 15. Jahrhundert – aber den Lehrbüchern zufolge war es der süddeutsche Philologe Hieronymus Wolf (1516-1580), der 1557, also ca. hundert Jahre nach dem Ende des östlichen „Reiches der Römer“ diesen Titel durch den Namen „Byzanz“ ersetzte, welcher sich schließlich denn auch durchsetzen sollte – und dies auch bei den Griechen selber, die einen sehr großen Teil ihrer Geschichte, den spätantiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen, unter diesen Namen stellen (und dies, obwohl die Negativ-Assoziationen mit „byzantinisch“, „Byzantinismus“ ihnen nicht unbekannt sind).

 

In Westeuropa blieb man zunächst überwiegend bei der herkömmlichen aus dem Lateinischen abgeleiteten Bezeichnung „griechisch“. Der aus Kreta stammende Maler Domínikos Theotokopoulos (1541-1614), der sich immer für einen Griechen hielt und daher in Spanien den Zunamen „El Greco“ erhielt, hat in seiner Heimat eine Malweise erlernt, die man heute „byzantinisch“ nennt: zu seiner Zeit hieß sie „maniera greca“. Noch um 1800 nannte man in Deutschland die Bildkunst der Ikonen „griechisch“ oder „neugriechisch“, bevor sich gegen 1820 die Bezeichnung „byzantinisch“ durchsetzte.[22] Analoges vollzog sich dann hundert Jahre später, als Karl Krumbacher (1856-1909) an der Universität München das „Mittel- und neugriechische Seminar“ gründete, das erst nach seinem Tod in „Institut für Byzantinistik“ umbenannt wurde.

 

Ich selber habe in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts in München studiert. Nicht bei den Byzantinisten sondern bei den Philosophen – und bei denen habe ich von dem hier schon genannten griechischen Philosophen Plethon nichts gehört oder gesehen, an anderen philosophischen Instituten wäre es bzw. ist es kaum anders. Ausgerechnet bei den Deutschen mit der vielen Griechenbegeisterung steht es mit der posthumen Existenz griechischer nachantiker Philosophen ganz schlecht. Der Hauptgrund dafür, der wohl auch für die übrigen westeuropäischen Länder gilt, liegt darin, daß die Philosophiegeschichte, die ihren Ursprung in Griechenland ansetzt, also ausdrücklich geographisch bestimmt, dann zu den Römern weitergeht und dann ins sogenannte Mittelalter übergeht, das sie nur mehr implizit und unbewußt geographisch einhegt nämlich auf Westeuropa beschränkt, während Griechenland – dasselbe, das den Ursprung geliefert hatte! - als außerhalb dieser Raumzone liegend, außerdem unter den exotischen Namen „Byzanz“ subsumiert, einfach aus ihr herausfällt. Die traditionelle Philosophiegeschichte – eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – arbeitet mit einer bestimmten Geographie-Konstruktion und gleichzeitig mit einer starken Geographie-Vergessenheit. Jetzt, am Anfang des 21. Jahrhunderts nach Christus merkt man das allmählich; ich bin nicht der einzige.

 

Trotz dem Gesagten ist das Werk von Plethon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und weitgehend ediert worden. 1858 erschien in Paris, was von seinem Hauptwerk gerettet werden konnte, dank zwei französischen Gelehrten.[23] 1860 kam es zu einer Neuedition – mitsamt erstmaliger deutscher Übersetzung – der politischen Reformschriften Plethons.[24] Sie wurde von Adolf Ellissen (1815-1872) besorgt, und zwar innerhalb einer großangelegten Sammeledition mittel- und neugriechischer Literatur, die keineswegs auf Philosophie spezialiert war. Die nächste deutschsprachige Publikation zu Plethon kam 1874 heraus: Fritz Schultze: Geschichte der Philosophie der Renaissance. Erster Band: Georgis Gemistos Plethon und seine reformatorischen Bestrebungen (Jena 1874). Es handelt sich um eine Monographie, eine ausführliche und sorgfältige Darstellung der Denkwelt Plethons. Ihr Verfasser war ein Philosophiehistoriker ohne Spezialisierung auf sogenannte byzantinische Literatur. Zu seiner Zeit war ja die Byzantinistik noch kaum formell konstitutiert. Aber auch danach hat die deutsche Byzantinistik weder diesem noch einem anderen nachantiken griechischen Philosophen irgendeine bahnbrechende Arbeit gewidmet; das Gleiche gilt für die Philosophiegeschichtsforschung in Deutschland.

 

Aber der erste Satz des Vorwortes von Fritz Schultze gibt einen Hinweis, der unserer Aufmerksamkeit noch würdig ist. Schultze schreibt, er habe 1869 Herrn Wolfgang von Goethe, den Enkel des Dichters, kennenlernen dürfen und von ihm die Anregung erhalten, Plethons Leben und Philosophie darzustellen.[25] Der Herr von Goethe habe in seinen jahrelangen Forschungen über den Kardinal Bessarion die große Bedeutung erkannt, die Plethon nicht nur für Bessarion sondern für die Philosophie seines Zeitalters gehabt hatte, und er habe ihm, Schultze, wertvolle Materialien für sein Buch zur Verfügung gestellt.

 

Wenn es stimmt, daß dieser Wolfgang Maximilian von Goethe (1820-1883) in der Frühzeit der deutschen Plethon-Forschung einen bestimmenden Einfluß ausgeübt hat, dann dürfen wir der Frage nachgehen, was ihn dazu befähigt haben könnte.  Was hat ihn dazu geführt, sich mit dem Kardinal Bessarion (1403-1472) zu beschäftigen, jenem Schüler und Freund Plethons, der ebenfalls am Konzil von Ferrara-Florenz teilgenommen hat, aber im Unterschied zu seinem Lehrer entschieden für die Union von Rom eingetreten ist? Fragen wir uns, was Goethe überhaupt zu seiner Themenwahl geführt hat, so tauchen wir in ein Gebiet ein, das mit dem, was man heute „Byzantinistik“ nennt, gar nichts zu tun hat – oder vielmehr in ein Feld von intellektuellen Bewegungen, aus dem heraus sich die genannte Disziplin doch auch herausdifferenziert haben könnte. Letzten Endes in das Feld zwischen deutscher Klassik und deutscher Romantik, in welchem der Großvater dieses Goethe wie ein Leuchtturm aufragt.

 

Wolfgang Goethes Schrift wurde 1871 in Jena gedruckt und zwar unter dem Titel Studien und Forschungen über das Leben und die Zeit des Cardinals Bessarion 1395-1472. Abhandlungen, Regesten und Collectaneen. I. Die Zeit des Concils von Florenz. Erstes Heft. Die Titelseite gibt weder Ort noch Jahr an, wohl aber schließt sie mit der eingeklammerten Bemerkung: Als Manuscript gedruckt. Damit wird angedeutet, daß es dem damals einundfünfzigjährigen Verfasser nicht gelungen war, seine Schrift als ordentliches Buch oder gar als wissenschaftliches Werk bei einem Verlag unterzubringen. Dieser bibliotechnische Mangel ist die eine offensichtliche Besonderheit des Druckwerks. Sie steht in einem gewissen Gegensatz zu einer anderen gut sichtbaren Auffälligkeit, welche anzeigt, daß das Buch ein erster Band eines mindestens (!) vierteiligen Werks sein soll: I bezeichnet den ersten behandelten Zeitabschnitt, „Erstes Heft“ will sagen, daß dieser Zeitabschnitt mit dem vorliegenden Band keineswegs ausgeschöpft ist. In einem Brief hat Goethe selber diese biblionumerische Besonderheit seiner Schrift mit der Formel „Bessarion I. 1...“ bezeichnet.[26]

 

Die 230 Seiten umfassende Schrift enthält verschiedene Abschnitte, die sich alle auf das Konzil von Ferrara-Florenz beziehen, vornehmlich auf die Beteiligung der Ostkirche an diesem Konzil. Trotzdem machen sie einen ziemlich disparaten Eindruck und keineswegs rücken sie Bessarion in den Vordergrund. In ihrer Form schwanken die Ausführungen zwischen Beschreibung der – bereits gedruckten – Konzilsdokumente einerseits und realgeschichtlicher Darstellung der Vorgänge auf dem Konzil andererseits. Man hat den Eindruck, es handelt sich um Bruchstücke eines größeren Ganzen, das zwar erkennbar ist, aber nicht wirklich sichtbar gemacht wird. Allerdings kann man der Einleitung und dem Schlußwort die Formulierung einiger Gedanken entnehmen, die den Verfasser wohl geleitet haben werden.[27]

 

1.Goethe geht davon aus, daß in der Geschichtsforschung die Anlegung von Regesten, also Urkundensammlungen von Fürsten oder Gemeinwesen, eine übliche Technik darstellt – womit er sich in die Tradition der Politikgeschichte stellt und gleichzeitig in eine bibliographische oder historisch-kritische.

 

2.Nunmehr sei es an der Zeit, Urkundensammlungen nicht nur in bezug auf Staatsmänner sondern auch in bezug auf andere einflußreiche Personen anzufertigen. Wir dürfen wohl sagen, daß Goethe damit die rechtshistorische Methode in Richtung Kulturwissenschaft ausweitet.

 

3.Der Kardinal gehöre zweifellos zu diesen Persönlichkeiten, war er doch von besagtem Konzil an bis zu seinem Tode der „Haupt-Mittelpunkt“ des letzten großen Versuches, die abendländische und die morgenländische Kirche zu vereinigen. Hinter der Gestalt des Bessarion sei die „Geschichte der griechischen Kirche“ das Thema seiner Schrift.

 

4.Die Bedeutung dieses Themas lasse sich auf zwei zunächst einmal klar voneinander geschiedenen Linien situieren. Zum einen sei es im Näherrücken der griechischen Kirche und speziell in dem Bestreben des Bessarion darum gegangen, Griechenland mitsamt dem Griechentum zu erhalten. Bessarion habe sich ebenso wie sein Lehrer Plethon ausdrücklich als Angehöriger des griechischen Volkes bezeichnet und nunmehr, so Goethe, sei es an der Zeit, auch diese späten Griechen, diese Erhalter, Goethe nennt sie „Boten“, diese Boten der altgriechischen Sprache und Kultur, ähnlich zu behandeln wie die „Botschaft“. Goethe plädiert beinahe medientheoretisch jedenfalls medienfreundlich für die Nachträglichen, für die, die bis zu uns her tragen. Und er nennt sie lieber „griechisch“ als „byzantinisch“.

 

5.Und die andere Linie verweist noch unmittelbarer auf die Gegenwart – die Gegenwart des späten 19. Jahrhunderts und nicht nur die. Goethe meint, daß sich seine weiteren Untersuchungen über das Leben des trapezuntischen Kardinals auf dem brennenden Boden der brennendsten Fragen bewegen: „denn was ist die orientalische Frage seit ihrem ersten Stadium Anderes als der Wiedereintritt der Völker des oströmischen Reichs, des byzantinischen, des Romäer-Reichs in die Geschichte Europas, .... aus welcher sie .... herausgetreten waren.“[28]

 

6.Diese weitreichenden Fragen, die in die Geschichte die unabdingbare Querdimension der Geographie hineinspannen, werden von Goethe bloß angedeutet und nicht etwa zu großen Thesen ausgebaut. Nur in der Frage der Ökumenizität des Konzils, die in Ferrara und Florenz diskutiert worden ist, erlaubt sich Goethe von seiner historischen Darstellung aus einen Seitenblick auf das Konzil von 1870-1871.

 

7.Goethe wollte diese Sammlung von Bruchstücken zur Geschichte des Unionskonzils regulär publizieren. Aber der Hallenser Kirchenrechtler Otto Mejer, sein lebenslanger Freund, riet ihm davon dringend ab, ja vereitelte eine solche Publikation, weil für ihn das Unfertige dieser Schrift zu offensichtlich war. Goethe mußte sich dem zu seinem Leidwesen fügen. Aber ganz gab er nicht nach: er organisierte eine Art Privatdruck für seinen Text und in seinem Schlußwort verteidigte er das Unfertige, die bloße Vorarbeit, die sich nicht als etwas Fertiges ausgeben will.

 

8.An Otto Mejer schrieb er: „ich will die Aussagen der bekannten Quellen in ihrer Nacktheit ... Ich mag kein Schriftsteller sein, ich will kein Buch schreiben. Ich will Nichts, als: die Wahrheit fördern.“[29] Das Insistieren auf den Aussagen – der anderen, die selbstzerstörerische Wahrheitsliebe, das Scheitern des Schriftstellers.

 

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All dies entfernt den Enkel weit vom Dichterfürsten. Aber was könnte die Linie sein, die Wolfgang Goethe zu seinem sowohl unscheinbaren wie auch unabsehbaren Bessarion-Projekt geführt hat? Es ist wohl die, die im vierten der hier angeführten Punkte genannt ist: Erhaltung, Weiterleben des Griechentums. Goethe prägte dafür auch die Formel: „Altertum im Mittelalter“ – und er meinte wohl ein Weiterleben übers Mittelalter hinaus.

 

Anstatt nun sämtliche Forschungsvorhaben von Wolfgang Goethe aufzuzählen, springe ich in seiner Biographie von der Zeit um 1870 fast dreißig Jahre zurück und komme in seine Studentenzeit. Er studierte von 1839 bis 1845 in Bonn, Jena, Heidelberg und Berlin: zunächst Philologie, dann hauptsächlich Jurisprudenz und zuletzt auch Philosophie.  Diese drei Fächer deuten bereits auf die weitgespannte Dreigliederung seines Studienabschlusses voraus, welchen er im Fach Jurisprudenz machte und der doch weit über die juristische Disziplin hinausgriff. 1844-1845 veröffentlichte Goethe drei höchst unterschiedliche Schriften, die er als Ersten, Zweiten, Dritten Beitrag bezeichnete und zusammenstellte.[30]

 

Der Erste Beitrag ist eine schmale philosophisch-geistesgeschichtliche Abhandlung mit dem Titel Der Mensch und die elementarische Natur. Wohl unter dem Einfluß von Schelling geschrieben, den Goethe in Berlin gehört hatte, entwickelt die Schrift den Gedanken, daß ein ursprüngliches Nahverhältnis zwischen dem Menschen und der „elementarischen Natur“ zunächst durch die Religionen, vor allem die alttestamentarische und die christliche, dann durch bestimmte Entwicklungen in Wissenschaft und Kunst, aufgelöst worden sei. Aber sowohl im Mittelalter wie im Protestantismus habe die „Verschwisterung mit der Natur“ wieder an Boden gewonnen, ebenso bei Montesquieu und Rousseau und vor allem in der Romantik, auch wenn deren Darstellungsformen häufig verfehlt seien.[31]

 

Goethe zieht nun daraus den Schluß, daß für die Darstellung seines Anliegens, in dem es um eine fundamentale Orientierung des Menschen geht, eine angemessene Form zu finden sei, indem man die strenge Wissenschaft und die Poesie zunächst auseinanderhalte, um sie dann zu einem höheren Ganzen zu vereinigen. Die erste Form bestehe darin, „eine geschichtliche Darstellung der Momente zu geben, aus denen hervorgeht, wie die Völker seit der ältesten Zeit, die elementarische Natur, insofern sich Rechtsverhältnisse an diese knüpfen konnten und knüpften, auffaßten, welche Äußerungen des Rechtslebens und der Gesetzgebung hierauf zurückzuführen sind“.[32]

 

Damit hat Goethe das Erkenntnisinteresse für seine eigentliche Doktorarbeit formuliert, eine lateinische Dissertation mit dem Titel De fragmento Vegoiae, cujus sit momenti in tractandis antiquitatibus juris Romani – und dem Vortitel De ea quae homini cum natura intercedit ratione Tractatus Secundus. Gegenstand der Dissertation ist ein Fragment der etruskisch-römischen Rechtstradition, das von göttlicher Kosmogonie und Landverteilung ausgeht und all denen katastrophale Strafen androht, die die Grenzsteine unbefugt zu ihren Gunsten verrücken.[33] Der Grund für diese Strafandrohung liege darin, so Goethe, daß, wer die Grenzen der Äcker verletze, den Himmel, die Erde und die gesamte Natur attackiere. Deren Heiligkeit und deren Gewalt über das menschliche Leben seien bei den Römern, bei Solon, Montesquieu und Rousseau ebenso bezeugt wie in den indischen Dichtungen Mahabharata und Sakuntala.[34] Darf man die Frage stellen, ob diese weiträumige Zeugensammlung etwa mit Plethons Methode der globalen Doxographie vergleichbar ist?[35] An Plethon erinnert jedenfalls auch die Verknüpfung mit der Gesetzgebungs-, d. h. mit der Verfassungsproblematik.

 

Allerdings scheint Goethe die „vis naturae“ ebensowenig genau zu definieren wie die „elementarische Natur“ im ersten Beitrag. Man kann vermuten, daß mit diesen Wörtern archaisch-pantheistische Vorstellungen evoziert werden, die in der Neuzeit bei Johann Wolfgang Goethe, bei Schelling, bei Hölderlin formuliert worden sind und in der antiken Philosophie noch allgegenwärtig waren, wofür ein später Nachklang in der Schrift des Bessarion zu finden ist, die behauptet: Quod natura consulto agat.[36]

 

Wolfgang Goethes „Dritter Beitrag“ war eine umfangreiche Versdichtung, ein märchenhaftes Drama mit dem Titel Erlinde.[37] Die nicht gelingende Liebe zwischen einem mittelalterlichen thüringischen Grafen und einer Nixe soll veranschaulichen, zu welchen Folgen die Verfeindung zwischen dem Menschen und der Natur im sogenannten privaten Leben führt: zur Unmöglichkeit der Liebe - die in privaten Äußerungen Wolfgang Goethes ein wichtiges Thema war und die nun in einer sehr romantischen Wendung auch literarisch hervorteten darf.[38]

 

Ich glaube, daß man in dieser Wendung auch einen Zug erkennen kann, der Wolfgang Goethes Objektwahlen allgemein kennzeichnet: nämlich eine Abwendung von den „klassischen“ Autoren und Epochen und Landschaften, mit denen die „Klassiker“ Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Hölderlin eine ähnliche Orientierungsproblematik, letzlich eine religionspolitische, orchestriert haben. Ich denke an Schillers bereits erwähntes Gedicht Die Götter Griechenlands von 1788, geschrieben unter dem Eindruck von Winckelmanns Griechensehnsucht, ein Gedicht, das zehn Jahre später Hölderlin zu seiner Wiederbelebung einer besseren antiken Welt inspiriert hat. Ich denke an Johann Wolfgang Goethes Ballade Die Braut von Korinth von 1797, wo die Konfrontaton mit dem Christentum noch direkter und schärfer ausgetragen wird, indem „Anti-Christentum auf den Spuren des Ante-Christentums“ herbeigedichtet wird.[39]

 

Diese „klassische“ Linie des Philhellenismus, die dann zu Nietzsches radikaler Deutsch-Griechheit führen wird, war es, von der der andere Goethe hartnäckig abzuweichen suchte, indem er mit einem obskuren nur halb-römischen Fragment ein ebenso halb-exotisches Stück Antike ausgewählt hat, um ein Zeugnis für die Macht der Natur zu finden. Seine größte Abweichung aber bestand darin, daß er als seinen Hauptzeugen für das Weiterleben des Altertums im Mittelalter und darüber hinaus zwar einen Griechen und einen bewußten gewählt hat, aber einen, der üblicherweise als „Byzantiner“ gilt und der dann noch dazu durch seine Hauptentscheidung und seinen Lebenslauf anscheinend zu einem Apostaten vom Griechentum geworden ist, zu einem römischen Katholiken, zu einem römischen Kardinal. [40]

 

Bemerkenswertes Abweichlertum dieses anderen Goethe. Einen biographischen Hintergrund dafür gibt er in einem Brief an seinen Freund Otto Mejer an, in dem er auf die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Preußen und dem Vatikan anspielt: „Mir erschien Rom und gerade der starre Katholizismus wohl noch mächtiger und für viele Seelen auch unentbehrlicher, als Ihnen. Es mag das mit meinem Leben in Österreich während des Glaubens- und Kirchenkampfes zusammenhängen.“[41]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



[1] Eliza May Butler: The Tyranny of Greece over Germany. A study of the influence exercised by Greek art and poetry over the Great German writers of the eighteenth, nineteenth an twentieth centuries (Cambridge 1935): 3f.

[2] Siehe Eliza May Butler: op. cit.: 4.

[3] Siehe Walter Seitter: Unzeitgemäße Aufklärung. Franz Grillparzers Philosophie (Wien 1991): 159ff.; siehe Eliza May Butler: op. cit.: 309.

 

[4] Siehe Eliza May Butler: op. cit.: 7.

[5] Siehe Eliza May Butler: op. cit.: 80.

[6] Siehe Eliza May Butler: op. cit.: 209ff., 239.

[7] Eliza May Butler: op. cit.: 239f.

[8] Siehe Eliza May Butler: op. cit.: 330ff.; dazu neuerdings Johann Chapoutot: Le National-Socialisme et l’Antiquité (Paris 2008)

[9] Eliza May Butler: op. cit.: 335.

[10] Siehe Suzann L. Marchand: op. cit.: 4f.; Zum Topos ‚Deutschland als neues Griechenland’ versus Frankreich und Romanitas siehe Konrad Wiedemann: Römische Staatsnation, griechische Kulturnation. Zum Paradigmenwechsel zwischen Gottsched und Winckelmann, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. internationalen Germanistenkongresses, Göttingen 1985 (Tübingen 1986)

[11] Siehe Suzann L. Marchand: op. cit.: 9. Die Vergleiche zwischen Winckelmann und Rousseau gehen bis auf Diderot zurück (1765) und finden sich etwa auch bei Helmuth Plessner (1918)

[12] Siehe George Mosse: Toward the Final Solution: A History of European Racism Madison 1985)

[13] Siehe Esther Sophia Sünderhauf: op. cit.: 49, 186.

[14] Esther Sophia Sünderhauf: op. cit.: 49f.

[15] Siehe Esther Sophia Sünderhauf: op. cit.: 102ff.

[16] Siehe Esther Sophia Sünderhauf: op. cit.: 310ff., 323f.

[17] Eliza May Butler: op. cit.: 6.

[18] Siehe Rémi Brague: Europa. Eine exzentrische Identität (Frankfurt 1993)

[19] Martin Heidegger im Spiegel-Gespräch am 23. September 1966; neu erschienen in: Der Spiegel 23 (1976): 215.

[20] Siehe dazu Christoph V. Albrecht: Geopolitik und Geschichtsphilosophie 1748-1798 (Berlin 1998): 87ff. Albrecht weist auch darauf hin, wie Hölderlins Begeisterung für die französische Revolution und die Hoffnung, die er in Napoleon setzt, zwischen seiner Griechenland-Sehnsucht und seiner Deutschland-Sorge vermittelt: op. cit.: 179ff., 404ff.

[21] Siehe Jakob Philipp Fallmerayer: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Ein historischer Versuch (Stuttgart 1830-1836); Das Albanesische Element in Griechenland (München 1856-1866).

[22] Siehe Arne Effenberger: Goethe und die „Russischen Heiligenbilder“. Anfänge byzantinischer Kunstgeschichte in Deutschland (Mainz 1990): 5f.

[23] Pléthon: Traité des Lois, ou Recueil des Fragments, en partie inédits, de cet ouvrage ... par C. Alexandre. Trad, par A. Pelletier (Paris 1858)

[24] Adolf Ellissen: Georgius Gemistus Plethon’s Denkschriften über die Angeleenheiten des Peloponnes (Leipzig 1860)

[25] Friedrich Schultze: Georgios Gemistos Plethon und seine reformatorischen Bemühungen (Jena 1874): VII.

[26] Siehe Otto Mejer: Wolf Goethe. Ein Gedenkblatt (Weimar 1889): 100

[27] Siehe Wolfgang von Goethe: Studien und Forschungen über das Leben und die Zeit des Cardinals Bessarion 1395-1472. Abhandlungen, Regesten und Collectaneen. I. Die Zeit des Concils von Florenz. Erstes Heft: 11ff., 229ff.

 

 

 

[28] Das „griechische Projekt“ und später die „orientalische Frage“ bezeichneten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Frage nach dem Schicksal Griechenlands; siehe dazu Christoph V. Albrecht: op. cit.: 133ff.

[29] Otto Mejer: op. cit.: 95.

[30] Siehe Wolfgang Schuller: De fragmento Vegoiae. Wolfgang Maximilian von Goethe und seine Doktorarbeit, in: Antike und Abendland XLV (1999): 166. Schuller schrieb seinen verdienstvollen Aufsatz, nachdem das Exemplar der Doktorarbeit Goethes, das diesem persönlich gehört hatte, in seine Hände gelangt war. Er hat darüber sowohl in Erfurt wie in Jerusalem vorgetragen.

[31] Siehe Wolfgang Schuller: op. cit.: 173f.

[32] Wolfgang Schuller: op. cit.: 174.

[33] Siehe Wolfgang Schuller: op. cit.: 166f.

[34] Siehe Wolfgang Schuller: op. cit.: 167ff.

 

 

[35] Siehe dazu meinen Aufsatz „Eine Philosophie des Pluralen? Aspekte im Denken Plethons“, Ms. 2008.

[36] Siehe Ludwig Mohler: Kardinal Bessarion als Theologe, Humanist und Staatsmann. Funde und Forschungen III (Paderborn 1923): 88f.

[37] Siehe dazu Wolfgang Schuller: op. cit.: 175f.

[38] Siehe Otto Mejer: op. cit.: 61

[39] Siehe Konrad Rahe: „Als noch Venus’ heitrer Tempel stand“. Heidnische Antike und christliches Abendland in Goethes Ballade Die Braut von Corinth, in: Antike und Abendland XLV (1999): 160f.

[40] Hierzu siehe Ludwig Mohler: op. cit.: 10ff.

[41] Otto Mejer: op. cit.: 98.